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Zum Thema (direkte) Demokratie in der Schweiz und in der EU

Gerade im Nachhall der Annahme der Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ vom 28. November 2009 zeigt sich die Notwendigkeit einer Demokratiediskussion, die wir mit zwei Blickwinkeln führen wollen: Einerseits hinsichtlich der Schweizerischen Form der (direkten) Demokratie und andererseits hinsichtlich dessen, wie Demokratie in der EU proklamiert und praktiziert wird. 

Gestartet wird die Beitragsreihe mit dem Artikel von Dr. T. Kriesi „Echte demokratische Ansätze in Europa stärken“ (In: Zeit-Fragen, Nr. 47 vom 30. November 2009). Wir bedanken uns bei der Zeit-Fragen-Redaktion für die Möglichkeit der Veröffentlichung.

Echte demokratische Ansätze in Europa stärken. Zur historischen Situation nach Inkrafttreten des EU-Reformvertrags am 1. Dezember 2009

von Dr. Titine Kriesi

In jüngster Vergangenheit wurde der Welt einmal mehr vorgeführt, wo EU-Funktionäre ihre Bürger am liebsten haben möchten. Viele wurden Zeuge, wie Völker und Persönlichkeiten behandelt wurden, von denen Lobbyisten befürchten mussten, dass sie über den EU-Vertrag anders denken und anders abstimmen würden als gewünscht. Nebst Diffamierung wurde beispiellos Druck gemacht. Stand dies nicht im Gegensatz zur Aussage des deutschen Bundesverfassungsgerichts, wonach die EU-Mitgliedstaaten – nicht die Brüsseler Mannschaft (!) – als «Herren der Verträge» bezeichnet und dem Vertrag ein institutionelles und strukturelles Demokratiedefizit attestiert wurde? Letztlich erstaunt dies wenig, war dieser Vertrag doch das Endresultat einer 50jährigen Entwicklung eines finsteren Konzepts, das von Anbeginn an im Interesse Amerikas auf Macht angelegt war, um Europa zu kontrollieren. Und dieses Konzept war gar nie demokratisch gedacht. Zum Plan passt, dass es die Funktionäre am liebsten auch gleich noch der Schweiz überstülpen würden, obwohl sie wissen, dass die grosse Mehrheit der Schweizer sagt: Nein, wir wollen das nicht. Das Vortäuschen von Demokratie in der EU, wo Institutionen und politische Ämter oft wichtiger wurden als Menschen, wird dafür sorgen, dass das Empfinden der Bürger für ein Selbstbestimmen- und Selbstgestaltenwollen und das Gefühl dafür, woran es an Demokratie nach Inkrafttreten des Vertrags dann noch zusätzlich mangelt, erst nach und nach an die Oberfläche dringt.

Um die Ratifizierung des Vertrags durchzusetzen, kamen weiter gefasst Milliarden Euro an Propaganda- und Rufmordkampagnen auf Kosten der Steuerzahler zum Zuge. Vor allem «das deutsche Vorgehen», heisst es, «[riss] demokratische Mindeststandards nieder, die während der Installierung des Lissabonner Vertrags schon mehrfach ins Lächerliche gezogen wurden».1 Auch weiss inzwischen jedes Kind, dass bei EU-Referenden «Abstimmungen wiederholt werden können, bis PR-Offensiven das gewünschte Ergebnis erbringen».2 Da die «Eliten» alles daran gesetzt haben, den Inhalt des Vertrags zu verschweigen (nicht zuletzt die Ermöglichung der Todesstrafe auch bei Aufstand und Unruhe), sprechen einzelne von kaltem Staatsstreich. Rückblickend stellt man vielleicht selbst fest, dass man das eine oder andere schon früher hätte realisieren müssen. So hatte beispielsweise Jens-Peter Bonde, dänischer EU-Abgeordneter, schon im März 2008 verlauten lassen: «Der Europäische Rat hat die Anweisung erteilt, dass keine Institution in der Europäischen Union die Erlaubnis erhält, eine konsolidierte und lesbare Version des EU-Reformvertrags zu drucken oder zu publizieren, bevor nicht alle 27 Mitgliedsstaaten diesem Vertragswerk zugestimmt haben.»3 Bei diesem höchst undemokratischen Vorgehen blieb man bis zur letzten Unterschrift von Vaclav Klaus.

In der «neuen EU» nun hat der Europäische Rat die Hoheit zu Rechtsänderungen, denen weder das Europäische Parlament noch die nationalen Parlamente zustimmen müssen, … hat das Europäische Parlament keine demokratische Legitimation, … hat die EU-Kommission das alleinige Initiativrecht, … genügt der Europäische Gerichtshof im freiheitlich demokratischen Sinne der Gewaltenteilung keineswegs. Das heisst, die Nebel lichten sich zusehends, und die Wahrheit sickert durch. Ernüchtert und desillusioniert werden die Folgen des Vertrags allmählich zur Kenntnis genommen und der Verlust von Demokratie auf das Alltagsleben vorausgeahnt. Schwerer verdaulich wird sein, wenn der einzelne Bürger mit der Zeit eine nochmalige «Verdünnung» seines politischen Einflusses feststellen muss. Wenn er zum Beispiel registriert, dass «sein Land» praktisch keine nationale Rechtsprechung mehr hat …

Demokratiemangel und erwachender Widerstand

Stimmen werden vernehmlicher, dass die EU überhaupt demokratieunfähig sei und dass sie nicht demokratisiert werden könne, weil der ganze Aufbau, ihre Struktur und das System nicht danach sind. Das System lasse Demokratie erst gar nicht zu und sei von den EU-Mächtigen auch gar nicht gewollt. Nur scheint nun Europa – nur um die EU grenzenlos auszuweiten – bei solch bösartigem Vorgehen bzw. solchen Äusserungen nicht mehr ganz ohne Vorbehalte mitzumachen. Zu offensichtlich war die Eile, mit der vor allem Berlin auf die Ratifizierung drängte. So wurden demokratische Verfahren umgangen und das Volk ausgeschaltet. Auch die Schweizer verbitten sich derlei Häme von aussen wie von innen und haben wenig übrig für Politiker, die unter Politik ein Geschäft von Lüge, List, Show und Verführung verstehen wollen4 und kein Herz für das einmalige Schweizer Modell haben.

EFTA bewahrt nationale Souveränität

Da und dort gibt es Anzeichen, dass die lange vorgetäuschte Demokratie von der Bürgerschaft auf die längere Zukunft hin nicht mehr geschluckt werden wird. Böse Zungen behaupten gar, ein Augias-Stall wie die EU gehöre ausgemistet. Eine Umkehr, die das System angreife, sei fällig, und dann soll es ein Stück weit redlicher werden. Ein redlicher Weg, der eine bewährte und erfolgreiche Alternative zur EU darstellt, ist nach wie vor die Europäische Freihandelszone Efta, die unter Bewahrung nationaler Souveränität strikte gegen das Prinzip der Supranationalität ist. Eine Alternative zudem, wo Fragen um das Wohl des Landes und der Bürger auf nationaler sowie auf der Ebene der Mitgliedstaaten frei, gleichberechtigt und ohne jegliche politische Abhängigkeiten erörtert werden können. Etwas, was einzelne Staaten, die sich ihre nationale Souveränität nicht nehmen lassen wollen, vielleicht früher oder später ernsthaft überdenken werden. Nur ungern erinnert man sich gerade im Zusammenhang damit an Klaus, der nach seiner Unterschrift vor den Auswirkungen des EU-Reformvertrags mit den Worten warnte: «Tschechien hört mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages auf, ein souveräner Staat zu sein.»5

Demokratie in kleineren Einheiten

Weil die politische Intensität der Demokratie zumeist mit dem Prinzip der kleinen Einheit verbunden ist, gibt es Demokratie in eher kleineren Einheiten – oder anders formuliert: «Wieviel Europa verträgt die Demokratie?»6 Deshalb kann von einem illegitimen «Bundesstaat» von der Grösse einer EU nicht allzu viel erwartet werden, was an Demokratie erinnert. Europa hat’s geahnt: Nicht nur, dass die EU u.a. 14 Jahre lang keine Jahresrechnung in Ordnung brachte,7sondern die Bürger haben den Mangel an demokratischem Prinzip zum Teil über Jahre am eigenen Leib erfahren, wenn auch viele versucht haben, sich irgendwie damit abzufinden: Wenn das Demokratieprinzip fordert, dass die Gesetze eines Staates gegenüber dessen Bürgern durch demokratisch legitimierte Organe dieses Staates vollzogen werden, so ist dieses Erfordernis nach Inkrafttreten des Vertrags erst recht nicht erfüllt. Etwas, was es seit der Monarchie nicht mehr gegeben hat. Welcher moderne Bürger wünscht sich diese Zeit zurück?8

Keine fremden Richter – dem Volkswillen wieder Geltung verschaffen

Demokratie und Rechtsstaat sind Ausdruck der Freiheit. Alles Recht beruht bekanntlich auf Freiheit, und wo kein Recht ist, ist auch keine Freiheit. Bürger, die sich zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlen, haben ein Herz dafür, diese über Jahrhunderte den Mächtigen abgerungenen Rechte wieder von neuem zu verteidigen. Ein erforderlicher Entschluss, um «dem fundamentalen Prinzip der Demokratie die Geltung und auch die Wirkung zurück[zu]geben»9 und dem Volkswillen wieder Geltung zu verschaffen. Die Bürger besinnen sich langsam zurück im Anliegen, dass sie das Fundamentalprinzip der Demokratie nicht aus der Hand geben und dabei bleiben wollen, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.10 Um diese Werte für die Zukunft zu erhalten, wird die historische, für EU-Länder demokratiewidrige Situation den Bürgern einiges an Widerstandswillen abverlangen. Dabei steht es jedem Land offen, sich die bewährten Elemente der direkten Demokratie der Schweiz ins Gedächtnis zu rufen, in der Volksabstimmung, Volksinitiative und Referendum entwickelt wurden, gelebt werden und die Welt daran erinnern, dass in der Schweiz der Bürger gefragt ist und der Volkswille entscheidet.

Ein Zurück zu den Nationalstaaten als einziger Rechtsschutz und die Rückbesinnung auf das, was redlich ist, was Sinn macht im Leben, was Wert hat, die Menschen verbindet und Frieden bringt, ist unausbleiblich. Ein Europa, in dem Entscheidungen nicht nach Machtverhältnissen, sondern im Konsens angegangen werden und Menschen in Gemeinschaft frei wirken können, das gilt es nun allmählich zurückzuerobern. Bekanntlich hatte schon Kant in der Schrift «Zum ewigen Frieden» gesagt, dass nur die Demokratie (oder die Republik) den ewigen Frieden garantiere.

1    EU-Vertrag von Lissabon: Prager Fenstersturz, ­Numero Vier, www.german-foreign-policy.com vom 14.10.09

2    Ebd.

3    Bonde Jens-Peter, dänischer EU-Abgeordneter im März 2008. In: Der «kalte Staatsstreich» der EU     Wie der Lissabonner Vertrag die EU-Nationen entmachtet, www.sein.de/gesellschaft/politik/2009/der-kalte-staatsstreich-der-eu.htm 

4    Vgl. Leuenberger, Moritz: Bundesrat ist ein mächtiges Amt. Thurgauer Zeitung, 26.1.2008, und ders.: Das Böse, das Gute, die Politik. Bern, Luzern, 6. September 2002.

5    europolitan: Vaclav Klaus unterschreibt EU-Reformvertrag – Regelwerk tritt endlich in Kraft, 5.11.2009, S. 1.

6    Prof. K.A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde, 25. Mai 2008, S. 263.

7    Vgl. Andreasen, Marta: Brussels Laid Bare, 2009, ISBN 978-0-9554188-1-5.

8    Ab 1849 propagierte Albert Galeer in der Zeitschrift «L’Alliance des Peuples – Der Völkerbund» ein vereinigtes Europa im Sinne eines demokratischen Europa als Gegenentwurf zum Europa der Monarchien.

9    Prof. K.A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde, 25. Mai 2008, S. 74.

10    z.B. im deutschen Grundgesetz Art. 20 Abs. 2, S. 1, GG.